(verpd) Ein Fahrzeugführer darf nicht in jedem Fall darauf vertrauen, dass jemand, der bereits die Fahrbahn betreten hat, in der Fahrbahnmitte stehen bleiben wird, um ihn passieren zu lassen. Das hat der Bundesgerichtshof jüngst (VI ZR 11/21) entschieden.
Ein Fußgänger wollte außerhalb eines geschützten Bereiches, wie etwa einem Zebrastreifen, eine breite Brücke überqueren. Dabei wurde er von einem auf der Gegenfahrbahn von rechts kommendem Auto erfasst.
Der Mann räumte zwar ein, an dem Unfall nicht ganz unschuldig zu sein. Er behauptete aber, dass ihn der Pkw-Fahrer bei ausreichender Aufmerksamkeit hätte wahrnehmen und rechtzeitig bremsen können. Diesen treffe daher ein hälftiges Mitverschulden. Der Fußgänger verklagte den Kfz-Fahrer auf einen entsprechenden Schadenersatz.
Das sah das Berliner Kammergericht anders. Der Kläger habe den Unfall wegen Missachtung der für ihn als Fußgänger geltenden Sorgfaltspflichten aus § 25 Absatz 3 StVO (Straßenverkehrsordnung) leichtfertig und grob fahrlässig verschuldet.
Ein Fahrer brauche nämlich nicht damit rechnen, dass ein Fußgänger eine mehrspurige Straße über die Mittellinie hinaus trotz herannahender Fahrzeuge weiter überquert. Ein derartiges Verhalten sei unbedacht und unvorsichtig.
Bei einer etappenweisen möglichen Überquerung einer Fahrbahn dürfe sich ein Autofahrer gegenüber einem Fußgänger darauf verlassen, „dass dieser bei einer erkennbaren Trennung der Fahrbahnseiten mit dem Erreichen der anderen (Gegen-)Fahrbahnseite auf den von rechts kommenden Verkehr achtet.“ Das erklärte das Kammergericht.
Trägt der Fahrer keinerlei Schuld an einer Kollision mit einem sorglos die Fahrbahn überquerenden Passanten, trete selbst eine Haftung aus der Betriebsgefahr des Wagens hinter dem groben Eigenverschulden des Fußgängers zurück. Die Klage des Fußgängers sei daher unbegründet.
Diese Argumentation ließ der Bundesgerichtshof (BGH) nur zum Teil gelten. Er hob das Urteil des Berliner Kammergerichts auf und wies den Fall zur erneuten Entscheidung an das Gericht zurück.
Nach Ansicht des BGH müsse ein Fahrer nicht damit rechnen, dass ein erwachsener Fußgänger versuchen wird, kurz vor seinem Fahrzeug die Fahrbahn zu betreten. Er müsse auch nicht damit rechnen, dass ein Fußgänger, der beim Überschreiten der Fahrbahn vor oder in der Mitte der Straße anhalte, unerwartet weiterlaufen werde.
Das gelte zumindest dann, wenn er bei verständiger Würdigung alles Umstände keinen Anlass habe, an dem verkehrsgerechten Verhalten des Fußgängers zu zweifeln.
Derartige Zweifel hätte der Autofahrer in dem zu entscheidenden Fall aber möglicherweise haben müssen. Denn es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Beklagte das Verhalten des Klägers bei ordnungsgemäßer Beobachtung der gesamten Straßenfläche ab dem Betreten der Fahrbahn hätte wahrnehmen können.
Daher hätte er nicht darauf vertrauen dürfen, dass ihn der Kläger passieren lassen werde. Er hätte seine Fahrweise darauf einstellen müssen.
Unter den gegebenen Umständen treffe den Beklagten möglicherweise ein Mitverschulden. Um das in genannten Fall zu klären, wurde die Angelegenheit vom BGH an das Berufungsgericht, also zur Vorinstanz, zurückverwiesen.